sprungmarker testet

spd.de: Relaunch mit Hinterzimmer

Das Hinterzimmer meint im klassischen Sprachgebrauch einen Raum, wo geheime Absprachen stattfinden und ist meisthin im Gegensatz zum öffentlich zugänglichen Raum zu sehen, als Gegen-Salon quasi. Dort finden sich die ein, die nur einen begrenzten Zugang haben. 🙂 Zugegeben die SPD meint mit ihrer alternativen Startseite sicherlich nicht den klandestinen, geheimen Zugang, sondern im Gegenteil den Zugang für all jene, die Probleme mit der animierten Startseite haben.

twitter hat ja mittlerweile Kultwert, was Schnelligkeit und Meinungsknapptheit anbelangt. Gestern noch sprach ich dort an, dass diese Sonderlösung nicht wirklich notwendig ist. Martin Ladstätter von BIZEPS votierte jedoch dafür, dass die gesamte Seite ja barrierefrei sei. Warum sich also dann über diese Sonderlösung auf der Startseite noch unterhalten?

Insgesamt – und hier stimme ich der allgemeinen Begeisterung durchaus zu – ist der Relaunch der SPD im Hinblick auf Webstandards und Barrierefreiheit wegweisend. Sogar an die Auszeichnung des Sprachwechsels wurde gedacht. Wenngleich mich das gestalterische und inhaltliche Konzept eher im Regen stehen läßt. Es ist schade, dass darauf heute – besonders mit Blick auf barrierefreie Seiten – immer weniger Wert gelegt wird. Es ist aber nicht meine Absicht, diesen Relaunch in den Boden zu stampfen, wie Ladstätter vermutet. Es geht mir um den Umgang mit Sonderlösungen, die ja bis dato eher verpönt waren.

Daher müssen wir uns über derartige Sonderlösungen unterhalten, bevor sie durch Vorzeigeseiten wie die der SPD Schule machen. Nicht wenig häufig wird man Kunden finden, die sich dann genau dieser Vorzeigeseiten bedienen und darauf bestehen, dass derartiges dann ja hoffähig zu sein hat und somit vom Hinter- zum Vorderzimmer reüssiert.

Der Sprung über das Hinterzimmer

SPD Webseite Ausschnitt Quellcode

Abbildung 1: Die Sprungmarken zum Inhalt und zur Servicenavigation liegen noch weit vor Hinweis und Link zur Alternativversion (Quellcode. spd.de animierte Startseite)

Grundsätzlich wird der Link zur alternativen Startseite umsichtig eingebettet, sogar mit eigener Überschrift und Hinweistext. Beide sind aus dem sichtbaren Bereich nach links verschoben worden, damit sie so nicht zu sehen sind, aber etwa ein Screenreader-Nutzer die Information erhält. Tastatur-Nutzer haben von dieser Information jedoch nichts, hier wäre ein wenig Information im TITLE-Attribut des Links durchaus sinnvoll gewesen.

Jedoch werden sowohl Screenreader– als auch Tastaturnutzer an diesem sorgsam aufbereitetem Konzept vorbeilaufen, weil die Sprungmarken zu Inhalt und Servicebereich im Footer vor dieser Information zu erreichen sind und sicherlich von den meisten Nutzern vorher genutzt werden, um direkt zum Inhalt zu springen. Wenn man schon soviel Wert auf eine alternative Startseite legt, sollte man auch diesen Link an erster Stelle platzieren, damit etwa Screenreader-Nutzer die auch erreichen.

Hört man sich bis zum Alternativ-Link mit Jaws durch, hat man schon gut eine Minute hinter sich: Jaws-Sequenz bis zum Alternativlink (Mp3-Datei, circa 1 Minute, 1,5 MbJaws 10). Geht man aber davon aus, das ein Screenreader-Nutzer direkt zum Inhalt springt, überspringt er schlicht die Informationen zur Alternativversion. Im übrigen kann man mit JAWS 10 sogar die problematische Multi-Content-Box bedienen, auch wenn es ohne Sichtkontrolle eher schwer ist, den inhaltlichen Zusammenhang zu erfassen. Da die Box jedoch auch mit der Tastatur uneingeschränkt bedienbar ist, stellt sich die Frage, wofür die Alternativversion erstellt wurde? Mit JAWS hört sich der direkte Weg zum Hauptinhalt dann so an: Jaws-Sequenz mit direktem Sprunglink zum Inhalt (Mp3-Datei, 32 Sekunden, 745 KbJaws 10).

Die Hürde Multi-Content-Box?

Recht umfänglich wurde die Multi-Content-Box begrüßt, so neu ist das Konzept aber nun auch wieder nicht: ein aktuelles Schaufenster mit Texten, Bildern und Medien wie Videos. Nun, welche Barrieren treten da wirklich auf? Mit der Tastatur ist die Box nutzbar, sogar ein Screenreader-Nutzer kommt da durch. Vergrößerbar ist die Box auch, sogar im IE 6, ohne Grafiken inhaltlich bedienbar, eventuell könnten Probleme mit den Kontrasten bei dem leichten Grau des Fliesstextes auftreten. Wo liegt also die größte Barriere, wie immer bei nicht-aktivem Javascript.

Kopf der SPD Alternativseite mit und ohne Javascript

Abbildung 2: Der Link zur animierten Startseite fehlt, wenn Javascript nicht aktiv ist (Quellcode. spd.de alternative Startseite)

Aber dafür eine alternative Startseite? Viele AJAX-Skripte bieten heute ganz selbstverständlich eine alternative Ansicht. Ein Beispiel sind Bildergalerien, die bei nicht-aktivem Javascript schlicht untereinander ausgegeben werden. Warum hätte man nicht auf derartiges zurückgreifen können? Weil auch noch Navigationen mit interagieren? Ironischerweise braucht auch die alternative Version Javascript. Zum einen für die Videos, die nur mit bedienbar sind und für die Möglichkeit, auch wieder auf die animierte Startseite zurückzukehren.

Fazit: Das Hinterzimmer ist nicht notwendig

SPD Alternativseite Flashplayer-Hinweis

Abbildung 3: Um das Video auf der Alternativseite abzuspielen, ist wieder Javascript notwendig (Quellcode. spd.de alternative Startseite)

Warum also dieses Hinterzimmer, das selbst nicht ganz barrierefrei ist, wenn man das Video ohne Untertitel und Audio-Kommentar betrachtet? Wäre es da nicht sinnvoller, eine Startseite zu erstellen, die allen einen Zugang gewährt? Freilich so ein Schaufenster mag eine Weile ganz attraktiv sein, aber wenn man bedenkt, dass es sich schlicht um einzelne Themenbereiche handelt, die mit Inhaltsblöcken angeteasert werden, wäre eine klassische Portalseite durchaus hinreichend. Das bisschen Medialität (Video, Ton) lässt sich auch so prominent platzieren und für alle barrierefrei gestalten (Stichwort: JW Player, der Untertitelung und Audio-Kommentar beispielhaft integriert). Wohlgemerkt ich spreche mich nicht gegen AJAX-Lösungen aus, nur gegen Sonderlösungen, die nicht wirklich zu Ende gedacht sind. Vor allem wenn man dazu noch bedenkt, dass die eigentliche Startseite des Auftritts bereits eine Linkgabelung enthält, die zwischen animierter und alternativer Startseite auswählen läßt. Nur wenn man schnell genug ist, ansonsten wird man per Refresh weitergeleitet. Auch derartige Vorschaltseiten war lange – und das völlig zurecht – verpönt.

Und wenn man sich schon im Hinterzimmer rumdrücken muss – man beachte, dass es sich nicht nur um eine Seite handelt, sondern um sämtliche prominente Navigationspunkte – mit Dank an Templateentwickler, der die alternativen Templates immer mit im Auge hat 😉 -, dann sollte es wenigstens gestalterisch nicht wie die Hintertreppe aussehen. Inhaltliche Chancengleichheit in allen Ehren, aber Breitbandfotos im Schaufenster sehen im Hinterzimmer wie vergessen aus.

Epilog – Was andere dazu negatives sagen

  • Einen sehr ausführlichen Kommentar von Dirk Weber (metazoa) zu Architektur und Design gibt es in den Kommentaren beim Designtagebuch.
  • Das Blog Wie ich reich wurde rückt in seiner Rezension den Anspruch der SPD, eine Killerapplikation ins Internet platziert zu haben, nochmal ein wenig zurecht.
  • Und der Trash log kann sich so gar nicht mit der gepriesenen Multi-Content-Box anfreunden und entdeckt in den Blätternlinks das Deppenagenturleerzeichen.

10 Antworten auf “spd.de: Relaunch mit Hinterzimmer”

  1. Super Artikel von Dir! Schreib das der SPD. Vielleicht schließen sie das Hinterzimmer. Bin gespannt, ob die SPD Deine stichhaltigen Argumente beherzigt.

  2. Ich sehe die alternative Startseite nicht als sonderweg für Menschen, die barrierefreien Zugang brauchen, sondern als die Seite, die mir den schnellsten Überblick über alle Neuigkeiten gibt. Das kann und soll die „animierte Startseite“ nicht leisten. Dort geht es letztlich um den visuellen Effekt, um den Eyecatcher oder wie auch immer man das nennen will.

    Für mich ist die „animierte“ Version ein Schaufenster, wenn ich schnell an der Seite vorbeilaufe. Sie kann es schaffen, dass ich den laden betrete und mir ein paar Regale anschaue. Die „alternative Startseite“ hingegen ist wie der Katalog einer Bibliothek, da gehe ich hin, wenn ich nach etwas bestimmten suche von dem ich annehme, dass es dort (also halbwegs aktuell) ist.

    Für mich ist das ein alternativer Weg um die Inhalte der Seite zu erfassen und zu erfahren. Wichtig ist hier, dass die Inhalte identisch sind und es in der Hand der Nutzerin oder des Nutzers liegt welche er sich anschauen mag. Das ist – meiner Meinung nach – eine ganz andere Sache als die Problematik mit dem Tabellenverhau und der Nur-Text-HTML-Alternative.

  3. @Martin
    Ja, ich werde den Link an die SPD weiterleiten, wenngleich ich glaube, dass dieses Alternativkonzept, auch wenn nicht ganz durchdacht, wohl doch sehr gewollt wird.

    @Eric
    Gut, wir könnten jetzt in alter Sherlock Holmes Manier die beiden Interpretationsansätze abwägen. Aber es ist tatsächlich so, dass im Begleittext im Quellcode auf die Barrierefreiheit der Alternative explizit hingewiesen wird. Witzigerweise, jetzt erst gesehen, auf der Alternativseite wird dieser Begleittext dann nur via Javascript eingebunden. Auch sehr schlau. Wahrscheinlich braucht man die Info dann eh nicht, wenn man schon kein Javascript hat im Hinterzimmer. 😉

    Naja, auch herkömmliche Portalseiten mit Teaserkonstrukten haben eine ganz klare Schaufensterfunktion, nur dass das jetzt hier bei der SPD an einen konkreten Platz prominent gebündelt wird. Und meiner Meinung nach, ist das die hilfloseste Variante, die ganzen angeteaserten Inhalte dann auch nochmal darzustellen, weil man die Teaser (!) nicht mal als Einheit oder in Gänze wahrnimmt. Das halte ich dann für die verquerste Form, Informationen aufzubearbeiten.

  4. Gegen deine umfangreiche (und für mich sehr aufschlussreiche) Sezierung der SPD-Website, mutet meine Kritik ja quasi oberflächlich und angerissen an. Umso mehr ehrt mich daher dein Verweis zu meiner Kritik.
    Regards
    Cornelius H.

  5. @Cornelius H.

    🙂 Nein, Deine Kritik setzt ja noch ganz woanders an. Ich durfte heute auch merken, dass das Kontaktformular zwar die Möglichkeit bietet, fast jeden in der SPD anzuschreiben, jedoch nicht an eine allgemeine Stelle, um Feedback etwa zur Homepage zu senden.

    Das konnte man ja auch an anderen Orten lesen an Kritik, dass es eben nur Web 2.0 aufnimmt, aber nicht praktisch macht. Also noch nicht. 🙂

  6. […] Barrierefreiheit der neuen SPD-Website unter der Lupe: spd.de: Relaunch mit Hinterzimmer […]

  7. @Cornelius H.

    vielen Dank 🙂 Ich finde es ja wunderbar, dass aus unterschiedlichsten Blickwinkeln der Relaunch unter die Lupe genommen wird. So billig kriegt die SPD das sonst nicht. 🙂

  8. @Martin

    Nein, leider nein. Aber wie gesagt, ich habe mir dann halt die Emailadresse per Hand von der Seite rausgesucht. Wer weiss, wann die die nachsehen. Aber ich schicke Dir die Antwort auf alle Fälle zu.

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